
Die Familie Heim-Werlenbach
Einfach Liebe 4


Melanie kann es immer noch nicht fassen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschwand ihr Mann spurlos und ließ sie und ihre beiden gemeinsamen Kinder zurück. Zudem räumte er alle gemeinsamen Konten leer. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Drei Tage nach diesem Vorfall kommt es noch schlimmer: Ihr Chef Konstantin unterstellt ihr, interne Informationen weitergegeben zu haben und entlässt Melanie, ohne Chance, sich erklären zu dürfen, fristlos aus ihrem gutbezahlten Job.
Der nächste Knall lässt nicht lange auf sich warten, denn ihr wundervolles Haus, wurde hinter ihrem Rücken von ihrem verschwundenen Ehemann verkauft und die neuen Besitzer möchten pünktlich einziehen. In kurzer Zeit hat Melanie alles verloren. Als dann auch noch ihr Sohn Max in die falschen Kreise abzurutschen droht, muss sie etwas unternehmen. Eine zufällige und zugleich unerwünschte Begegnung mit Konstantin scheint ihr einziger Rettungsanker zu sein.
Und plötzlich war er nicht mehr da ist der vierte Teil der Einfach-Liebe-Reihe. Alle Bände sind in sich abgeschlossen und durch wiederkehrende Figuren miteinander verbunden. Sie können unabhängig voneinander gelesen werden.
Der Roman ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem Titel Ein Wiedersehen für immer.
Leseprobe
Eine Entschuldigung
Konstantin hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde. Der Gang hierher hatte ihm einiges an Selbstüberwindung abverlangt. Während der Ostertage hatte er mit sich selbst verhandelt. Schließlich war er zur Einsicht gelangt, es seiner ehemaligen Assistentin schuldig zu sein.
Die fristlose Entlassung vor zehn Monaten war ungerecht gewesen. Und ja, sie war grausam. Jedenfalls sah er das heute so. Es passierte praktisch nie, dass er jemanden dermaßen unfair behandelte. Doch bei Melanie hatte er genau das getan. Dabei hatte er sie als seine Assistentin über alle Maßen geschätzt.
Dem Hinauswurf hatte er eine zusätzliche Demütigung hinzugefügt, indem er sie mit der Security aus dem Haus geleiten … nein, werfen ließ.
Das schlechte Gewissen erdrückte ihn. Weshalb war er so brutal vorgegangen?
Er wusste es haargenau. Melanie hatte ihm etwas bedeutet. Mehr als eine Angestellte es dürfte.
Konstantin war stolz darauf gewesen, als der besonnene Stratege der Familie zu gelten. Seine Entscheidungen traf er auf keinen Fall leichtfertig und nie, bevor er sämtliche Pros und Kontras abgewogen hatte. Er war Jurist und es galt die Regel: Im Zweifel für den Angeklagten. Melanie hatte er diesen Grundsatz seiner Zunft nicht zugebilligt.
Und nun wollte er seinen Fehler eingestehen. Vielleicht wieder etwas gutmachen.
Da stand er nun, an einem Ort, der ihm Unbehagen einflößte. Das Haus wirkte renovierungsbedürftig, die schäbige Haustür aus Holz mit einem blinden Glasfenster sah aus, als führte sie in einen Schuppen. Der Eindruck wurde im Inneren verstärkt durch ein klappriges Fahrrad, einen kaputten Kinderwagen, dem ein Rad fehlte sowie mehrere Gerümpelteile, die sich im Flur verteilten. Die Treppenstufen waren ausgetreten. Einen Aufzug suchte man vergeblich. Konstantin wehrte sich gegen das Bedürfnis, Plastiktüten über seine neuen Oxford Shoes von Ferragamo zu streifen. Im Treppenhaus begegnete er einem Kaugummi kauenden Mädchen, das ihn von oben bis unten musterte.
Ein Mann im maßgeschneiderten Anzug war hier offenbar Sehenswürdigkeit Nummer eins. Konstantin ärgerte sich, dass er nicht erst zu Hause vorbeigefahren war, um sich nach der Arbeit umzuziehen. Jetzt fühlte er sich fehl am Platz.
Was war, um Himmels willen, passiert? Seinen letzten Informationen zufolge war Melanie wohlhabend verheiratet gewesen. Doch in der großzügig angelegten Villa in Starnberg hatten ihm fremde Menschen die Tür geöffnet. Zum Glück hatten ihm die neuen Besitzer Melanies Adresse geben können.
Warum wohnte Melanie in diesem heruntergekommenen Mietshaus? War das Café, in dem Konstantin sie letzten Monat überraschend als Bedienung angetroffen hatte, wirklich ihr jetziger Arbeitsplatz?
Er tastete sich drei Stockwerke hoch, immer auf den Boden achtend, um nicht auf einen Kaugummi oder Schlimmeres zu treten.
Melanie Marland. Ihr Namensschild. Wobei Schild übertrieben war, vielmehr befand sich ein Zettel neben dem Klingelknopf, der auch noch zerknittert aussah. Konstantin holte tief Luft und klingelte. Niemand entschuldigte sich gern, wenn er Mist gebaut hatte. Er war keine Ausnahme.
Die Tür wurde zögernd geöffnet und ein kleines Mädchen mit Zöpfen steckte seinen Kopf heraus.
Melanies Tochter. Wie hieß sie gleich?
»Hallo!« Konstantin hatte sich bemüht, Abstand zu seiner Assistentin zu halten. Daher waren seine Kenntnisse über ihr Privatleben minimal. »Ist deine Mama da?«
Lärm im Hintergrund.
»Ich möchte nicht, dass du schon wieder zu diesen Kerlen gehst. Bitte, Max ...« Melanie, ihr Tonfall klang frustriert.
»Na und? Mir doch egal!« Die patzige Stimme eines Jungen.
»Max, das sind randalierende, grölende ...«
»Sie sind meine Freunde! Immer machst du alles mies.« Ein Jugendlicher mit halblangen Haaren stürmte auf ihn zu. Er stieß seine Schwester weg und trat mit dem Fuß die Tür ganz auf. Konstantin wich gerade rechtzeitig zur Seite, der Halbwüchsige hätte ihn beinahe umgerannt in seiner Hast, die Treppe hinunterzueilen.
»Max ...!« Ein verzweifelter Aufschrei.
Und dann stand sie plötzlich vor ihm, ohne Make-up, die honigblonden Haare lockten sich um ihren Kopf. Obwohl ihre Kleidung lediglich aus Jeans und einem ausgeleierten T-Shirt bestand, wurden seine Knie weich. Ihre Ausstrahlung war unvermindert vorhanden und die Wirkung auf ihn genauso umwerfend wie eh und je.
Sie erstarrte kurz, dann traf ihn ein vernichtender Blick. Sie zog ihre Tochter zurück und wollte die Tür zuziehen. Konstantin war schneller, er betrat kurz entschlossen die Wohnung.
»Was willst du hier?« Ihre Miene war abweisend. »Möchtest du noch mal mit deinen sündteuren Schuhen auf mich treten und dich daran erfreuen, dass ich am Boden liege?«
»Das traust du mir zu?«
»Warum sonst bewegst du deinen Hintern hierher?«
»Um mich zu entschuldigen.«
Damit hatte sie nicht gerechnet, das erkannte er an ihrer Mimik. Nach einigen Sekunden beugte sie sich zu der Kleinen. »Lena, gehst du hinüber zu deinen Puppen? Carla muss bestimmt aufs Töpfchen.«
Das Kind drehte sich ohne Widerspruch um und verschwand im benachbarten Zimmer. Melanie schloss die Tür hinter ihr.
»Du willst dich tatsächlich entschuldigen? Der große Konstantin Heim von Werlenbach kommt in dieses Loch und bittet um Verzeihung?«
Er hatte ihren Sarkasmus verdient. Ohne jede Frage.
»Es tut mir wirklich leid, Melanie. Ich habe dir unrecht getan und ...«
»Weißt du jetzt, dass ich es nicht war? Toll! Gratuliere! Nach fast einem Jahr – grandios! Verdammt, du hast mir nicht einmal eine Verteidigung gelassen.«
Konstantins Wangen glühten. »Ich möchte es wieder gutmachen ...«
»Dass ich nicht lache!« Melanie stemmte ihre Arme in die Hüften. »Ich will dich nicht hier haben, Konstantin. Geh einfach.«
»Was ist geschehen, Melanie? Warum wohnst du hier mit deinen Kindern? Wo ist dein Mann? Weshalb arbeitest du in dieser fürchterlichen Bude, die sich Café schimpft?«
»Das geht dich überhaupt nichts an.«
»Du hast einen Bachelor in Wirtschaft. Du könntest ...«
»Was du nicht sagst!« Melanie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Mit diesem verschlüsselten Arbeitszeugnis von dir?«
»Was soll das heißen?«
»Tu nicht so unschuldig! Das Zeugnis, das mir euer Personalchef ausgestellt hat, klingt auf den ersten Blick vorteilhaft, weil ein Arbeitszeugnis bekanntlich nicht ungünstig ausfallen darf. Aber die Formulierungen sind eindeutig. ›Durch ihr offenherziges Wesen war sie überall beliebt‹. Ich habe erst beim Arbeitsamt erfahren, was dieser Satz bedeutet. Nämlich, dass ich eine Plaudertasche bin, die illoyal ist. Und die Floskel: ›Das Arbeitsverhältnis wurde in beiderseitigem Einvernehmen aufgelöst, wir wünschen alles Gute!‹ Super! Mit diesen überaus liebenswürdigen Abschiedsworten hatte ich absolut keine Chance. Und falls doch jemand interessiert war und bei euch angerufen hat, bekam er die Auskunft, wie treulos ich mich verhalten hätte. Kein Job für mich. Weißt du, was das bedeutet, wenn man zwei Kinder ernähren muss?«
Konstantin hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nie den Kopf über die Form von Arbeitszeugnissen zerbrochen. Nächster Punkt auf seiner To-do-Liste: mit Herrn Bonner von der Personalabteilung sprechen.
»Was ist mit deinem Mann passiert?«
Melanies Miene verschloss sich. »Verschwinde! Ich komme auch ohne mildtätige Gaben zurecht.«
»Ich könnte dir deinen Job zurückgeben.«
»Und diejenige, die ihn jetzt hat, ebenso fristlos entlassen wie mich? Du bist ein Monster, Konstantin. Dort, wo andere ein Herz haben, ist bei dir ein Stein. Ein eiskalter Stein.«
Konstantin traf der Satz bis ins Mark. Ohne Widerstand ließ er sich über die Türschwelle schieben.
»Ich will dich nie wiedersehen. Und verzeihen kann ich dir nicht. Allerdings glaube ich keine Sekunde, dass dich das in irgendeiner Weise berührt.«
Konstantin fand sich vor der verschlossenen Tür wieder und hätte am liebsten seine Fäuste benützt, um dagegen zu schlagen.
Vermasselt.Verzweifelt
Melanie starrte minutenlang auf die geschlossene Tür.
War das wirklich eben Konstantin gewesen? Vier Jahre war sie für ihn durchs Feuer gegangen, hatte sich glücklich geschätzt, den tollsten Chef der Welt zu haben. Vor allem seine besonnene, ruhige Art hatte sie tief beeindruckt. Sie hatte sich erlaubt, heimlich für ihn zu schwärmen. Natürlich mit gebotener Diskretion, denn er hatte nie anderes als berufliche Wertschätzung durchblicken lassen. Dennoch hatte sie sich in der irrigen Annahme befunden, sie würde ihm etwas bedeuten.
Bis zu jenem schrecklichen Tag, als ihr geliebter Chef ihr den Todesstoß gegeben hatte. Er hatte nicht wissen können, dass ihr Leben bereits vorher ein Scherbenhaufen gewesen war. Dass ihr Ehemann sie schändlich hintergangen hatte. Melanie fühlte sich immer noch dermaßen betrogen, dass sie nicht daran denken wollte. Damals hatte sie sich damit getröstet, dass sie ihre Arbeit hätte. Doch dann hatte ausgerechnet Konstantin ihr den letzten Rest an Boden unter den Füßen weggezogen.
Sie schloss die Augen und sah die Szene wieder deutlich vor sich, als wäre es gestern passiert und nicht vor zehn Monaten. Vierzig Wochen, in denen die Welt rund um sie jeden Tag ein Stückchen mehr zerbröselte.
Nichts am Morgen dieses 23. Juni 2016, einem Donnerstag, hatte sie auf die bevorstehende Katastrophe vorbereitet. Sie saß vor ihrem Computer und sollte später einen Vertrag für eine Kaufhauskette ausarbeiten. Konstantin hatte als Jurist der Familienfirma ›Heim Backwaren‹ eine enorme Verantwortung. Und sie hatte sein Vertrauen errungen. Zunehmend mehr Firmen-Interna waren in ihre Kompetenz übergegangen. Sie entwickelten sich zum perfekten Team. Glaubte sie zumindest. Konstantin hatte sie mit respektvoller Freundlichkeit behandelt, eine gewisse Grenze war nie überschritten worden. Melanie hatte ihn aus der Ferne verehrt und gedacht, sie würde ihn kennen, wenigstens ein wenig. Sie hatte sich geirrt.
Wie üblich checkte sie die Mails, druckte Verträge aus und sammelte Unterlagen für Besprechungen zusammen. Selbst als er sie ins Büro gerufen hatte, mit einer Stimme, die ungewohnt barsch aus der Sprechanlage klirrte, ahnte sie nichts von der Lawine, die kurz darauf auf sie zurollte.
»Melanie, deine Zeit hier bei uns ist zu Ende.« Sämtliche seiner Worte, ohne jedes Gefühl, hatte sich in ihrem Gedächtnis eingebrannt. Am meisten getroffen hatte sie die kalte Ruhe, mit der er sie ihr entgegengeschleudert hatte.
»Was meinst du damit?« War das ein Witz? Von Konstantin, der nie anders als ernst gewesen war? Wohl kaum.
»Du hast mich verstanden.« Er sah ihr direkt in die Augen, sie hielt dem Blick stand. »Ich bin enttäuscht von dir, dass du tatsächlich Firmen-Interna weitergetragen hast.«
Sie befeuchtete ihre Lippen und musste zweimal ansetzen, ehe sie ein paar Worte herausbrachte. »Das kannst du doch nicht glauben! Was wirfst du mir vor?«
»Du hast über den Ehevertrag von meinem Bruder Klaus mit seiner Frau getratscht. Ausgerechnet seiner Ex-Freundin gegenüber. Und jetzt pack deine Sachen. Das restliche Gehalt wird dir überwiesen.«
»Aber ...«
Was sollte sie getan haben? Meinte er Giulia Caspari, diese italienische Ziege, die stets aufgetakelt hier herumgestiefelt war, als gehörte ihr der Laden? Sein Bruder Klaus hatte sich glücklicherweise vor Monaten von ihr getrennt. Seither hatte Melanie die Dame nie mehr zu Gesicht bekommen, auch vorher hatten sie höchstens einen höflichen Gruß ausgetauscht.
»Ich diskutiere nicht.« Konstantin senkte den Kopf und beschäftigte sich demonstrativ mit den Papieren auf seinem Schreibtisch.
Sie stand belämmert da, Übelkeit stieg in ihr auf. Das durfte nicht wahr sein! Sie brauchte den Job dringend. Wer hatte sie denunziert? Niemals hätte sie getratscht, schon gar nicht zu einer Ex von irgendwem.
»Konstantin, bitte ...!«
»Ich will dich nicht mehr sehen.« Er griff zum Hörer. »Arndt? Schick sofort zwei Männer zu mir.«
Arndt Steiger war der Sicherheitschef. Sie konnte kaum atmen. Das passierte nicht wirklich!
»Ich bin unschuldig.«
Konstantin sah nicht auf und vertiefte sich in einen Brief. Melanie hätte am liebsten geweint, aber das konnte sie sich nicht leisten. Sie musste kämpfen. Ihre Zukunft hing davon ab.
Sie trat nah an seinen Schreibtisch und beugte sich vor. »Bitte, Konstantin, ich habe mit niemandem gesprochen. Traust du mir das ernsthaft zu? Denkst du wirklich, dass ich so etwas tun könnte ...?«
Sie wurden durch lautes Klopfen an der Tür unterbrochen, zwei Beamte von der Security traten ein.
»Passen Sie auf, dass Frau Marland ausschließlich ihre Privatsachen mitnimmt. In zehn Minuten will ich sie nicht mehr auf dem Firmengelände haben.« Konstantins Stimme klang so eisig, dass Melanie fröstelte.
»Kommen Sie.« Einer der Sicherheitsleute zog sie zur Tür. Sie warf Konstantin, dem Chef, dem sie vertraut hatte, einen letzten Blick zu. Er sah nicht mehr auf.
Ihre Augen waren vor Tränen blind, als sie ihre Fotos und ein paar Privatsachen vom Schreibtisch nahm und in eine Tüte steckte.
An den demütigenden Weg erinnerte sie sich ebenfalls. Flankiert von zwei stämmigen Kerlen erschien ihr die Strecke dreimal so lang. Sie wurde von einigen Kollegen beobachtet, die gewiss alle vermuteten, sie hätte Geld geklaut oder sonst etwas Kriminelles verbrochen. Was für eine Demütigung!
Sie hatte nichts getan. Und nun war sie zusätzlich auch noch arbeitslos.