
Todesläuten

Blutüberströmt
Bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Erschlagen.
Eine Leiche liegt unter der Liesl,
der bekanntesten Glocke von Graz.
Wer ist der Tote?
Wie kam er in den verschlossenen Glockenturm?
Warum will niemand etwas gesehen haben?
Das Ermittlerteam rund um Chefinspektor Wakolbinger
und seine junge Assistentin Panzenböck
trifft auf eine Mauer
aus Hass und Lügen.
Der zweite Fall für das Team Wakolbinger/Panzenböck
Leseprobe
Glockenturm ‒ Donnerstag, 7.11.2019, 14.00 Uhr
Toni hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, aber er stellte sich auf das Schlimmste ein. Wenn der Zustand des Toten einen erfahrenen Beamten wie Lindner dermaßen aus dem Gleichgewicht bringen konnte, musste der Anblick grauenvoll sein.
»Wir müssen herausbekommen, wer alles einen Schlüssel hat«, sagte Cindy neben ihm. In den weißen Schutzanzug eingehüllt wirkte sie extrem jung. Kaum zu glauben, dass sie bereits dreißig war. Immer wieder ein wunder Punkt bei ihr. Die unnütze Bemerkung wies auf ihre Nervosität hin, er schwieg.
Der muffige Geruch von altem Gemäuer empfing sie, es war bedeutend kühler als draußen.
Franz sprach aus, was Toni dachte. »Oh Gott, hier sieht es aus, als wäre ein Tornado durchgerast.«
Chaos war für das, was sie im Inneren des ehemaligen Verlieses erwartete, noch untertrieben. Glühbirnen, Neonröhren und Lichterketten lagen ineinander verknotet auf dem Boden. Der Künstler hatte offenbar viel Zeit damit verbracht, Lichtinstallationen zu legen. Wie immer es vorher ausgesehen haben mochte, nun war es ein einziger Abfallhaufen. Glasscherben mischten sich mit buntem Papier, Plastikstücken, Draht und Kabeln.
»Steigt nirgends drauf«, forderte Toni sicherheitshalber und sie versuchten, die fast nicht existenten Bodenflächen zwischen den Trümmern zu erreichen. Wie auf Eiern erkletterten sie die Stufen des Turmes, auch hier fanden sie sämtliche Überreste des künstlerischen Schaffens auf dem Boden liegen. Cindy blieb direkt hinter ihm. Hätte er ihr befehlen sollen, unten zu bleiben? Und Franz mit seinem empfindlichen Magen? Auf der anderen Seite hielt er einiges davon, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. So grauenvoll der Anblick auch sein mochte, manchmal speicherte das Gehirn ein Detail ab, das später von Bedeutung sein könnte.
Auf einer der Treppenstufen erspähte er einen roten Fleck und bückte sich reflexartig. Blut? Das musste die Spurensicherung feststellen. Auch die anderen hatten die dunkle Verfärbung auf dem Steinboden gesehen. Ohne Worte setzten sie ihren Weg fort. Cindy deutete auf braunrote Spritzer, die ein paarmal auf den Stufen und an der Wand auftauchten.
Die letzte Kurve, und Toni stand im Eingang, der direkt zur Glocke führte. Er atmete durch.
Grauenvoll.
Das Blut war durch den ganzen Raum versprüht, der Anblick machte selbst ihm zu schaffen. Eine Gestalt lag verkrümmt am Boden auf der rechten Seite, unter einem der kleinen Fenster. Der Kopf eine einzige blutige Masse, die Arme und Beine am Körper anliegend. Gleich einer Puppe, die man in die Ecke geworfen hatte. Hinter sich hörte er Cindy keuchen. Er trat einen Schritt nach links, damit die anderen Platz hatten.
»Oh mein Gott.« Das kam von Niklas.
Franz würgte und eilte die Treppe hinab, dass das Knistern des Schutzanzuges laut zu hören war. Hoffentlich verwischte er nicht zu viele Spuren.
»Es sieht aus, als hätte wirklich der Glockenschwengel den Mann erschlagen.« Das Zittern in der Stimme von Niklas war nicht zu überhören. Sein Gesicht hatte die Farbe der Plastikkleidung angenommen.
»Aber wie ist das möglich?« Cindys Blick wanderte suchend durch den Raum. »Da müsste er direkt darunter gestanden haben, wer tut das? Ein Selbstmörder?«
Toni schüttelte den Kopf. »Gegebenenfalls stand er unter Drogen. Außerdem ist da noch das Blut auf der Treppe.«
»Ein Unfall?« Niklas schaute auf den Boden. »Aber wenn er gestolpert wäre, hätte ihn der Schwengel kaum erwischen können. Die Glocke hängt hoch.«
Toni scannte den Raum in Sekundenschnelle. »Was ist da bloß passiert?« Er schüttelte den Kopf. Die Liesl als Mörderin! »Hoffentlich findet die Spurensicherung etwas Hilfreiches. Auch wenn es schwierig wird, die einzelnen Spuren zuzuordnen, zahlreiche Leute sehen sich den Glockenturm an. Er gehört schließlich zu den Attraktionen von Graz.« Mit großen Schritten überbrückte er die Distanz zum Toten und beugte sich hinunter.
»Fällt euch auf, dass die Lichtinstallationen hier intakt sind?« Cindy wies auf die linke Seite, wo eine Lichterkette um die Holzverstrebungen gewunden war. Ein paar Glühbirnen waren in einer Weise verdrahtet, dass man sie für Figuren halten konnte, eine Neonröhre hing an durchsichtigen Fäden in der Luft, zahlreiche Fahnen aus Papier baumelten daran herunter. »Ich weiß zwar nicht, ob das so gehört, aber es sieht unangetastet aus. Dürfte eine Weihnachtskrippe darstellen.«
Toni erhob sich, kam zurück und betrachtete das Gebilde. Cindy hatte einen Blick für Kleinigkeiten. Beantworten konnte das nur der Künstler selbst.
»Wie kam der Mann überhaupt hier herauf? Er und eventuell ein Zweiter, wenn wir von Mord ausgehen?« Cindy drehte sich rundum.
»Was meinst du, Toni, wie lange er schon tot ist?« Niklas stand vor der Glocke, die nun ruhig verankert hing. Nur der blutige Glockenschwengel passte nicht ins friedliche Bild.
»Ich bin kein Arzt, aber die Totenstarre hat komplett eingesetzt. Also ich schätze, er liegt mindestens seit gestern Abend da.«
»Dann müsste er um neunzehn Uhr erschlagen worden sein«, kombinierte Cindy rasch. »Wenn es stimmt, dass die Glocke nur um sieben läutet, gibt’s keine andere Möglichkeit.«
»Fräulein Oberschlau!« Toni konnte es sich nicht verkneifen, es zu sagen. Sie war auf Zack, die Kleine, aber manchmal nervte das.
Niklas hob seine behandschuhten Hände hoch. »Soll ich mal nach einem Ausweis suchen?«
»Nein. Karl hat das schon getan. Überlassen wir das Ganze der Spurensicherung.« Toni war sich bewusst, dass sie das Feld räumen sollten. »Sprechen wir mit der Gruppe, die den Toten gefunden hat.«
Unten begegneten ihnen die Leute von der Spurensicherung mit Gruppeninspektor Gerfried. Er zog sich gerade den Reißverschluss an seinem Plastikanzug hoch. »Aber nicht, dass ihr mir wieder Sämtliches an Beweisen zertrampelt habt.« Es klang nur halb scherzhaft.
»Wir waren vorsichtig.«
»Jaja, das sagen sie alle.« Er spähte an Toni vorbei in den Innenraum. »Was bedeuten diese kaputten Lampen überall?«
»Angeblich das Wirken eines Künstlers.«
»Sieht nach Kampf aus.« Gerfrieds spitze Nase kräuselte sich. »Frisch ans Werk.«
Toni sparte sich ein ›so schnell wie möglich‹ hinterherzuschießen. Er wusste, dass die versierten Beamten professionell arbeiten würden. Einige von ihnen kannte er seit Beginn seiner Karriere hier in Graz.
Sie schälten sich aus den Schutzanzügen. Toni wies Niklas an, sich um die Touristen zu kümmern.
»Hol Franz dazu, sobald er sich eingekriegt hat.« Er drehte sich zu Cindy. »Wir befassen uns mit dem Guide.«
Minuten später standen sie vor der Touristengruppe, die im breiten Vorarlberger Dialekt aufgebracht diskutierte. Die meisten saßen hinter dem Glockenturm auf Mauerresten, dazwischen waren zwei Löwen aus Stein. Abseits auf der linken Seite des aufwärts führenden Weges stand ein mittelgroßer Mann, Mitte vierzig, der auf eine schluchzende ältere Frau einredete. Sie saß zusammen mit einem Grauhaarigen auf der Mauer, der den Arm um sie gelegt hatte.
»Chefinspektor Wakolbinger«, sagte Toni zu dem bärtigen Mann, hielt seinen Ausweis hoch und wies auf Cindy. »Revierinspektorin Panzenböck. Sind Sie der Guide?«
»Herr Reinhold Sedlacek?«, ergänzte Cindy. Richtig, Karl hatte seinen Namen genannt. Sie merkte sich wohl alles?
Der Angesprochene warf einen kurzen Blick darauf, antwortete rasch. »Ja. Die Gruppe hat mich für eine Schloßbergführung gebucht. Wir haben beim Uhrturm angefangen, ich mache immer dieselbe Runde, ausgenommen es wird anders gewünscht.«