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Wenn jeder Blick nur Liebe ist

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»Liebe ist eine Illusion, ein kurzlebiger Trugschluss, der dich irgendwann auf den nackten, kalten Boden der Tatsachen wirft.«

Lena wird von ihrem Freund Vincent eiskalt abserviert. Für ihn war ihre Beziehung bloß eine Affäre, doch für sie war sie so viel mehr. Umso schlimmer findet Lena sein plötzliches Verhalten: Er blockiert ihre Nummer, hat die E-Mail-Adresse gewechselt und lässt sich von seiner Sekretärin verleugnen. Lena startet einen letzten Versuch und schreibt Vincent einen Brief. Doch auch auf diesen reagiert er nicht. An diesem Punkt gibt sie auf, ihm hinterherzulaufen, obwohl sie ihm dringend noch etwas sagen müsste.

Auf einer Vernissage 15 Monate später steht Vincent plötzlich in Begleitung einer bildhübschen Frau vor ihr. Lena nimmt all ihren Mut zusammen und spricht Vincent an. Dieser lässt sie mit einem arroganten Kommentar abblitzen. Als Lena dann auch noch erfährt, dass es sich bei der Frau um seine Verlobte handelt, schwört sie, Vincent niemals ihr Geheimnis anzuvertrauen. Sie ahnen beide nicht, dass dieses unvorhergesehene Treffen ihre Leben für immer auf den Kopf stellen wird.

Im ersten Teil der Reihe hat Vincent die Schuld daran, dass es Emil, seinem Cousin, sehr schlecht geht. Gerade dieser Aspekt war es, der die Autorin dazu bewog, eine Fortsetzung zu ihrem gefeierten Liebesroman »Wenn jedes Wort nur Liebe ist« zu schreiben. In diesem Buch erfährt ihr, dass jede Münze zwei Seiten hat und das Verhalten eines Menschen nicht immer die innere Einstellung widerspiegeln muss.


Beide Teile können unabhängig voneinander gelesen werden.

Leseprobe - Kapitel 1

Lena 

 

Vincent war hier!


Ein Dolch fuhr mitten durch Lenas Körper. Zumindest fühlte es sich so an. Ihre Wangen begannen zu glühen, und das hatte nichts mit der Hitze des schwülen Julitages zu tun.
Fünfzehn Monate waren vergangen. Weshalb tat die Begegnung mit ihrem Ex immer noch so weh?
Wäre sie doch zu Hause geblieben!
Warum hatte sie sich bloß überreden lassen, hierherzukommen?
Lena müsse mal raus, hatte Paul betont. 
Ihr Freund hatte sie förmlich dazu gedrängt, ihren Bruder und dessen Freundin zu begleiten. Fast beleidigt hatte er reagiert und hatte ihr vorgeworfen, sie würde ihm das Babysitten nicht zutrauen.
Tatsächlich hatten die Kinder geschlafen, als sie um acht Uhr das Haus verließ und sie hatte somit keine Ausrede mehr. Fast hatte sie sich schließlich doch ein bisschen gefreut. Und die Ausstellung der Malerin Karin von Stein schien vielversprechend zu sein.
Nun bereute Lena ihre Entscheidung. Aber hätte sie mit Vincents Anwesenheit rechnen müssen?
Ja, flüsterte es in ihr, schließlich hatte sie gewusst, dass die Künstlerin die Schwester von Vincents Verlobter war.
Hatte sich ihr Unterbewusstsein die Begegnung gewünscht? 
Zwischen den zahlreichen Besuchern, die an Stehtischen Sekt tranken und intellektuelle Gespräche über Kunst führten, stach er deutlich hervor.
Aber vermutlich wäre ihr Vincent überall aufgefallen.
Im perfekt sitzenden grauen Anzug, hellem Hemd und passender Krawatte bot er das Bild des erfolgreichen Geschäftsmannes, der er ja auch war.
Hitze stieg in ihr auf, jedes Mal, wenn sie in seine Richtung blickte. Der Anblick war so vertraut. Er hatte sich nicht verändert.
Seine dunklen Haare waren modisch geschnitten und sie registrierte die widerspenstige Locke, die ihm immer noch in die Stirn fiel. Auch der gewisse Zug um den Mund war ihr gut bekannt, leicht amüsiert und selbstbewusst.
Hätten ihm nicht ein paar Haare ausfallen können? Eine Zahnlücke? Falten?
Ihr Herz schlug, nein hämmerte, als wollte es zum Hals heraus.
Kurz hatte sie das Gefühl, umzufallen. Es war das erste Mal seit diesem schrecklichen Tag, dass sie ihn wiedersah und ihr wurde übel. Doch nicht nur das.
Ihre Knie waren wie Pudding.
»Ich muss zur Toilette«, flüsterte sie Joe zu. 
»Zu spät, während der Eröffnung sind die Toiletten geschlossen.« Er grinste über den vermeintlichen Witz, doch Lena hatte nun keinen Sinn für seine Späße.
»Es geht gleich los.« Celina sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
Tatsächlich begann genau in diesem Augenblick die Musik zu spielen, ein Duo mit Gitarre und Keyboard.
Ob Vincent sie auch schon gesehen hatte?
Sie musste weg.
»Ich beeile mich.« Rasch drehte sie sich um und hastete davon.
Leider waren die Toiletten auf der anderen Seite des imposanten Raums. Und sie hatte nicht bedacht, dass sie, während sie sich durch die dicht gedrängte Menge kämpfte, erst recht Aufmerksamkeit auf sich zog.
Mit gesenktem Kopf erreichte sie endlich die rettende Tür, öffnete sie und hastete hindurch. Erleichtert atmete sie aus, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. 
Wie sollte sie hier wieder herauskommen?
Sie hätte nicht gedacht, dass es so wehtun würde, ihn wiederzusehen.
Der Mistkerl sah aus wie immer. Vermutlich hatte er keinen weiteren Gedanken an sie verschwendet, nachdem er ihr Herz zerrissen und in den Boden gestampft hatte.
Sollte sie es ihm jetzt und heute sagen, wie sehr er sie verletzt hatte? In ihrem Kopf entstand das Bild, wie sie zum Mikrofon trat und mit spitzem Finger auf ihn zeigte.

»Ich möchte nur kurz unterbrechen. Sehen Sie diesen Mann hier? Er hat mich schwanger sitzen gelassen, jeden Kontakt verweigert und sich stattdessen mit einer anderen Frau verlobt. Diese Dame ist übrigens auch hier, sie sitzt dort drüben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und noch einen schönen Abend.«

Nein.
Das war keine Option.
Und wollte sie überhaupt, dass Vincent es wusste? Davon erfuhr, dass er Vater geworden war?
Nein. Die Chance hatte er vertan.
Wut stieg in ihr hoch, wenn sie daran dachte, dass er sämtliche Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, abgewürgt hatte. Seine E-Mail-Adresse hatte er gelöscht, ihre Nummer auf seinem Handy blockiert, in der Firma hatte er sich verleugnen lassen. Zum Schluss hatte sie ihm auch noch einen Brief geschrieben! Mit aller Kraft schlug sie mit der Faust gegen eine der Toilettentüren.
»Besetzt«, ertönte es von innen.
Entsetzt trat sie zum Waschbecken. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass noch jemand hier war. O Gott, wie peinlich!
Da hörte sie auch schon, wie die Tür entsperrt wurde. 

Eine ältere Dame trat zu ihr an den Waschtisch. »Kind, Sie sind ja ganz blass.«
»Es tut mir leid«, Lena warf einen Blick auf die Tür. »Ich habe nicht daran gedacht, dass jemand drin sein könnte.«
Die Frau zupfte am Rock ihres mauvefarbenen Kostüms, stellte ihre Handtasche auf dem Waschbecken ab und hielt ihre Hände unter den Wasserhahn, musste allerdings ein wenig warten, bevor das Wasser floss. »Ich hasse diese neumodischen Apparaturen.« Ein schelmischer Blick traf Lena. »Es ist immer eine Spielerei, ehe man sich waschen kann.« Sie griff zu einem der Papierhandtücher. »Was hat Sie denn so wütend gemacht?« Nun warf sie das Papier in den Eimer und drehte sich ganz zu Lena. »Oder sollte ich besser fragen, wer?«
»Mein Ex«, hörte Lena sich zu ihrem Entsetzen sagen. Wieso erzählte sie das einer wildfremden Frau? »Er ist da draußen, mit seiner Verlobten, vermute ich mal.« Sie hatte Natascha von Stein noch nicht gesehen. 
»Und darum lassen Sie sich so einfach vertreiben?« Die Dame drehte sich wieder zum Spiegel und zog eine Haarnadel aus ihrer perfekt aufgesteckten Frisur. »Gehen Sie hinaus und zeigen Sie ihm, dass Sie längst über ihn hinweg sind.«
Die gute Frau hatte ja so recht.
Im Prinzip zumindest.
Die Sache hatte jedoch einen Haken.
Lena lehnte sich an die Holzwand, die die Toiletten vom Vorraum trennten. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.« 
Sie sollte es können. Es war mehr als ein Jahr vergangen, genauer gesagt war es fünfzehn Monate her, dass er sie brutal aus seinem Leben verbannt hatte.
Es sollte nicht mehr so wehtun, verdammt. 
Die Fremde steckte gekonnt ihre Frisur wieder fest und Lena spürte erneut ihren forschenden Blick auf sich. »Wollen Sie Ihr Leben lang vor ihm flüchten? Sie sehen mir nicht wie eine Frau aus, die unangenehmen Situationen aus dem Weg geht. Welchen Grund hätten Sie, sich zu verstecken? Eine Beziehung ist in die Brüche gegangen, das passiert. Aber deswegen sollten Sie sich nicht Ihre Freiheiten begrenzen lassen.«
Lena straffte sich. Die Dame hatte recht. »Also gut.«
Energisch ging sie zur Tür, griff nach dem Türgriff, doch dann zögerte sie.
»Nur zu«, erklang es von hinten. »Am besten gehen Sie schnurstracks zu ihm hin. Dann haben Sie das Überraschungsmoment auf Ihrer Seite. Grüßen Sie freundlich, fragen Sie ihn, wie es ihm geht, und flechten Sie beiläufig ein, dass Sie einen neuen Partner haben.« Sie griff in ihre Handtasche und holte einen kirschroten Lippenstift heraus. »Ob es stimmt oder nicht, ist egal. Nur geben Sie sich keine Blöße.«
Kurz stieg Ärger in ihr auf. Weshalb gaben die Menschen so gern ungebetene Ratschläge? Sie wollte ihre alte Wunde nicht wieder zum Bluten bringen.
»Es wird ihm egal sein.«
»Vielleicht. Aber es stärkt Ihr Ego.« Gekonnt malte sie ihre Lippen an. Neidvoll musste Lena erkennen, dass die Dame etwas davon verstand, sich herauszuputzen. Auch ihre Kleidung zeugte von Geschmack. Und Reichtum. Sie wirkte auf eine gewisse Weise zeitlos elegant und strahlte eine Würde aus, die man sich nicht erwerben konnte, sondern die ihr in die Wiege gelegt worden war.
Wenn sie bloß ein Quäntchen davon hätte! 
»Alles Gute, mein Kind.«

Irgendwie gestärkt mischte sich Lena wieder unter die Gäste. Die Fremde hatte recht gehabt, es wäre besser, Vincent zuerst anzusprechen. Dann wäre die erste Begegnung vorbei und sie könnte zur Tagesordnung übergehen.
Und sie wollte nicht feige davonlaufen. Er hatte sich charakterlos verhalten und sollte vor Scham im Boden versinken, nicht sie.
Hatte er den Brief gelesen und die Tatsache, dass sie schwanger gewesen war, einfach ignoriert? 
Am besten war es, Lena konfrontierte ihn damit, dann hätte sie Klarheit. Ein Blick in seine Augen würde ihr genügen.
Sie sollte einen Skandal heraufbeschwören, das hätte er verdient.
Wo war er überhaupt?
»Da bist du ja endlich!« Joe trat neben sie. »Du hast die Rede der Künstlerin versäumt, kurz und humorvoll.«
»Ich war auf der Toilette, mir wurde ein wenig schwindlig.«
»Oje, sollen wir nach Hause?« Joe war sofort besorgt. 
»Nein.« Sie streckte sich, um besser sehen zu können. Wo war der Kerl? War er schon gegangen? Das durfte nicht sein. 
»Celina hat hier so viele Bekannte, dass ich mir fast überflüssig vorkomme. Vielleicht sollte ich auch auf Kunst umsatteln, und mir was einfallen lassen, um aufzufallen. Der eine hat sich einen Bleistift ans Ohrläppchen gehängt, leider sehe ich ihn momentan nicht mehr. Aber sieh mal, die da drüben, ist das ihr Unterkleid? Soll ich sie fragen, ob sie das Schlafzimmer sucht?«
Trotz ihrer Anspannung kicherte Lena nun. Ihr Bruder war unverbesserlich. Sie sah sich weiter im Raum um.
»Suchst du jemanden?« Offenbar war sie zu auffällig gewesen.
»Vincent ist hier.« Warum hatte sie das jetzt gesagt?
Joe runzelte die Stirn. »Wo?« Dann sah er Lena ins Gesicht. »Du wolltest abhauen, oder?«
»Stimmt, das war mein erster Impuls.« Es hatte keinen Sinn, das zu leugnen. Ihr Bruder kannte sie zu gut.
»Aber jetzt nicht mehr?«
»Jemand auf der Toilette hat mich überzeugt – ah, da ist sie ja.« Sie nickte mit dem Kopf und beobachte, wie sich ihre Toilettenbekanntschaft durch die Menge kämpfte. Selbst das tat sie mit Noblesse. Da sie hauptsächlich auf die eleganten Bewegungen geachtet hatte, war ihr entgangen, wohin der Weg der Dame geführt hatte. Jetzt bemerkte sie mit Erschrecken, dass die nette Frau sich direkt neben die Künstlerin stellte. Sie unterhielten sich vertraulich.
»Hi, sorry, ich habe mich ein wenig verplaudert.« Celina kam zurück, der Wirbelwind, der seit ein paar Monaten das Leben ihres Bruders bereicherte.
»Wer ist die Dame, die nun bei Karin ist?«, platzte sie heraus.
»Das ist Henriette von Stein, Karins Mutter«, sagte Celina und gab Joe ein Küsschen auf die Wange.
Ach du liebes bisschen! Karins Mutter! In diesem Fall auch die Mutter von Natascha von Stein. Sie hatte erst auf der Fahrt hierher erfahren, dass die beiden Schwestern waren. 
Zum Glück wusste Henriette von Stein nicht, dass es die Ex ihres zukünftigen Schwiegersohnes war, der sie Ratschläge gegeben hatte.
»Wollen wir einen Rundgang starten? Ich kenne Karins Bilder bereits und kann euch eine perfekte Führung bieten«, ertönte Celina von hinten.
»Ich mache alles, wenn du nicht mehr mit dem Häuptling dort flirtest.« Joe klang enthusiastisch.
Celina knuffte ihn in die Seite. »Das ist Boris, der ist schwul. Also, auf geht’s.«

Lena interessierte momentan nichts weniger als die Bilder. Aber natürlich heuchelte sie Begeisterung. Karin von Stein konnte offenbar wirklich malen und mit dem entscheidenden Schubs des reichen Herrn Papa würde sie es sicher noch weit bringen. 
Am Ende wollten Joe und Celina sich etwas zu trinken holen.
»Ich schau mich noch ein wenig allein um.« Lena ließ ihren Blick über die Gruppen wandern. Wo war Vincent bloß?
Celina sah sie fragend an.
»Sie sucht jemanden«, unterstützte Joe sie. Nicht ganz uneigennützig, vermutlich wollte er Vincent, der sich damals immer davor gedrückt hatte, ihre Familie kennenzulernen, nun in Augenschein nehmen.
»Eine alte Schulfreundin«, fiel Lena ihm ins Wort und signalisierte Joe mit einem Kopfschütteln, dass er schweigen sollte.
Leider war sie sich ziemlich sicher, dass Joe diese Nachricht nicht für sich behalten konnte. So sehr sie ihren Bruder schätzte, eines konnte er nicht: ein Geheimnis für längere Zeit bewahren. Dazu redete er zu gern.
Der plötzlich gewaltige Drang, Vincent zu finden, erstaunte sie selbst.
Davonlaufen war keine Option mehr. Hatte er den Brief gelesen und sich trotzdem nicht gemeldet? Das bezweifelte sie. 
In diesem Fall war er bis heute ahnungslos geblieben. Hätte er nicht das Recht, es zu erfahren?
Ein Teil in ihr drängte sie dazu, es ihm zu sagen.
Doch der weitaus größere Part flüsterte ihr zu, dass er sich das Recht durch seine Ignoranz verspielt hätte. 

Lena hasste es, wie sehr er sie immer noch und einfach nur durch seine Anwesenheit aus der Fassung bringen konnte.
Würde er sie grüßen? Würde er freundlich sein oder nur höflich? Keins von beidem? Hatte ihm ihre Beziehung überhaupt etwas bedeutet?
Wo konnte er sein? So groß war die Galerie auch nicht, aber es gab einige Nebenräume, Nischen und Ecken. Lena bemühte sich um einen langsamen Gang, wobei sie pflichtschuldigst die Bilder betrachtete.
Überall standen oder gingen die Menschen in Grüppchen, alle in festlicher Abendgarderobe, die teuer aussah. Die Frauen waren gestylt von der Frisur bis zu den lackierten Zehennägeln, die aus mancher Gucci-Sandale hervorlugten.
Lena hatte ein selbstgenähtes Cocktailkleid an, das sie nach einem Schnitt ihrer Freundin Nadine genäht hatte, die eine Modeschule besucht hatte. Ihre Schuhe hatte sie im Ausverkauf erstanden, die Ballerinas von Dolce & Gabbana und ihre Handtasche von Michael Kors hatten auch bereits ein paar Jahre auf dem Buckel. Trotzdem unterschied sie sich zumindest äußerlich nicht von den herausgeputzten Damen hier.
Und überhaupt, was zählte, war nicht die Verpackung, sondern das Innere.
Auf in den Kampf!
Lena hatte mit niemandem jemals über die Gründe der Trennung gesprochen, nicht einmal mit Joe, der lediglich wusste, dass Vincent sie bitter gekränkt hatte. Ihr Bruder hatte schnell seine Schlüsse gezogen, dass sie Vincent mit einer anderen Frau erwischt hätte. Sie hatte das nie korrigiert.
Die Wahrheit, diese schreckliche Demütigung, saß immer noch zu tief.
Natürlich hatte Joe auch mitbekommen, dass sie vergeblich versucht hatte, Vincent von ihrer Schwangerschaft zu erzählen. Die Erinnerung ließen Schmerz und Wut erneut auflodern, aus schwelender Glut wurde eine Flamme.
Nicht gut. In diesem Zustand tat sie oft Unüberlegtes.
Da sah sie ihn.
Weshalb musste er immer noch so gut aussehen? 
Ihre Knie wurden wieder weich und sämtliche ihrer Pläne lösten sich mit einem Plopp in Luft auf. Ihre Selbstsicherheit schmolz dahin und ihre Füße rüsteten sich bereits zum Davonrennen. Dass sie erstarrt stehen blieb und ihn anstarrte, als wäre er der Leibhaftige, stand jedoch im Gegensatz zu ihren Fluchtgedanken.
Vincent sprach gerade mit einer schlanken Frau, die einem Kunstkatalog entsprungen schien. Ihre langen dunkelblonden Haare waren zu einer eleganten Rolle aufgesteckt, das goldfarbene Kleid schmiegte sich an ihren Körper und die Sandalen aus feinstem Veloursleder umschlossen schmale Füße mit perfekt manikürten Zehennägeln. Das alles nahm Lena in Sekundenschnelle auf, ebenso wie die Tatsache, dass die beiden unglaublich vertraut miteinander wirkten.
Es musste seine Verlobte sein.
Lena beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Vincent auf das Bild vor ihnen deutete, vermutlich unterhielten sich die beiden gerade über die Kunst von Karin.
Nun entwickelten ihre Beine wirklich ein Eigenleben. Schritt für Schritt, wie ein Roboter, bewegte sie sich in die Richtung von Vincent und seiner Verlobten. Schließlich blieb sie vor dem Nachbarbild stehen und suchte Deckung hinter einem wohlbeleibten Herrn. Sie hatte das Gefühl, dass in ihr drin ein Kessel Wasser brodelte. In diesem Zustand konnte sie ihn keineswegs ansprechen, sie brächte kein Wort heraus.
Oder sie würde ihn anschreien und das wollte sie hier vor den Leuten auch nicht.
»Diesen Pinselstrich macht ihr niemand nach«, hörte sie hinter sich. »Die Farbkomposition kann sich wirklich sehen lassen.« Die näselnde Stimme dröhnte unangenehm in ihren Ohren. Automatisch drehte sie sich um und sah sich einem grauhaarigen Mann gegenüber, der mindestens einen halben Kopf kleiner war als sie.
Offenbar hatte er mit ihr gesprochen, denn sie waren die Einzigen vor dem Bild.
»Was ist Ihre Meinung?« Er sprach sie nun direkt an und sein Mausgesicht wirkte, als ob er gleich zuschnappen wollte.
»Es gefällt mir.« Schuldbewusst konzentrierte sie sich nun auf das Bild, das sie kaum bewusst angesehen hatte.
Eine Gänsehaut kroch ihren Rücken hinauf und gleich darauf folgte eine Hitzewelle.
Sie spürte Vincents Blick auf sich und hob den Kopf. Der Herr, der sie vorhin noch verdeckt hatte, war weitergegangen und sekundenlang existierten nur sie und Vincent.
Was dachte er? 
Weshalb gelang es ihm, so ruhig auszusehen, während sie, obwohl sie auf die Begegnung vorbereitet war, komplett aus der Fassung gebracht wurde? Der Wirbelsturm in ihr wurde stärker, in ihren Ohren dröhnte es. Eine schreckliche Sekunde lang hatte sie das Gefühl, nach hinten zu kippen.
Der Kunstkenner neben ihr sprach weiter, deutete mit den Händen und wollte ihr offenbar die Einzelheiten des Bildes näherbringen, doch er hätte Chinesisch reden können. Keines seiner Worte kam bei ihr an.
Vincent schien ebenfalls versteinert, bis ihn die Frau neben ihm am Ärmel zupfte. »Vincent?«
Er drehte sich zu seiner Partnerin und der Bann war gebrochen.
Lena gab sich einen Ruck. Was hatte die Dame auf der Toilette gesagt?
Sie sollte sich nicht unterkriegen lassen. Vincent sollte glauben, dass sie glücklich war. Auch ohne ihn.
Energisch überbrückte sie die kurze Distanz mit fünf Schritten. »Hallo, Vincent! Das ist aber eine Überraschung.«
Er wandte sich ihr sofort zu, seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht deuten. War es Schock oder Ärger, dass sie ihn ansprach? Oder vielleicht sogar ein kleines bisschen Freude?
Träum weiter, Lena, schalt sie sich innerlich. 
»Lena. Lange nicht gesehen.« Seine Stimme brachte immer noch alle Saiten in ihr zum Klingen. Sie sah ihm direkt in die Augen und registrierte, dass er mit Gleichgültigkeit reagierte.
Enttäuschung rann zäh wie Pech an ihr hinab. Was hatte sie erwartet?
Verflixt, sie sollte schon lange drüber hinweg sein.
»Ich hätte nicht gerechnet, dich hier zu treffen.« Seiner Stimme hörte sie keinerlei Emotionen an. 
Was wollte er mit diesem Satz ausdrücken? Dass er Lena keinen Kunstverstand zutraute oder dass sie es wagte, in seine Nähe zu kommen? Ihr blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Vincent drehte sich zu der gestylten Frau neben ihm. »Das ist Natascha von Stein, meine Verlobte.«
Lena hasste sie sofort. An der Adligen war kein Makel zu entdecken. Ebenmäßig geformtes Gesicht, glatte Haut, blaue Augen und eine schlanke Figur, die durch ihr teuer wirkendes Kleid noch betont wurde. Und natürlich perfekte Zähne, während sie immer mit ihrem leicht schiefen Eckzahn gehadert hatte.
Weshalb bekamen manche Menschen alles und so viele nichts?
Vincents nächste Bemerkung schürte ihre Wut noch mehr. »Natascha, das ist Lena, eine frühere Bekannte.«
Frühere Bekannte? Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen, damit sie ihm nicht sofort eine Ohrfeige verpasste.
Die Dame nickte ihr huldvoll zu. Man musste nicht besonders intelligent sein, um zu durchschauen, was hinter der ›Bekannten‹ steckte. Dennoch würde Natascha von Stein als ›Dame von Welt‹ hier wohl keine Szene machen, da war sich Lena sicher. Und richtig, Vincents Verlobte drehte ihr Gesicht demonstrativ von ihr weg und beugte sich zu ihrem Zukünftigen. »Vincent, Schatz, wir müssen noch mit den von Mandelslohs reden. Sie stehen gerade allein da drüben.«
Vincent folgte ihrem Blick. Lena musste schlucken. Im Geiste sah sie sich der kühlen Blondine die Hand reichen. »Grüß Gott, freut mich. Ich bin Lena, die Ex. Und Sie müssen wissen, dass Vincent Vater ist.«
Doch sie blieb stumm. Feigling.
Sollte Vincent den Brief gelesen haben und es war ihm egal?
Die Frage brannte in ihrer Seele, doch ihre Zunge klebte unfähig am Gaumen. 
Vincent ließ sich mitziehen, folgte seiner mondänen Verlobten wie ein Lamm, ohne Lena einen weiteren Blick zu schenken, ohne sich zu verabschieden. Sie sah den beiden nach, eine Leere breitete sich in ihr aus, die in jeden Winkel ihres Körpers kroch.
Was hatte sie sich erhofft? Dass Vincent seine Meinung geändert hätte? Dass er sie zurückwollte?
Es war fast lächerlich, wie er seiner Verlobten nachdackelte. 
War er so ein Weichei geworden?
Er war es nicht wert.
Warum war dann ihr Hals so eng?
Aus.
Chance verpasst.
Das war’s. Wenn sie Vincent nicht einmal eine Runde Small Talk wert war, dann würde er auch nichts erfahren. Sollte er sich doch zum Teufel scheren, samt seiner perfekten Wunschfrau.
Beim Umdrehen stieß sie fast mit dem Mausgesicht von vorhin zusammen. »Entschuldigung.«
»Wenn Sie möchten, können Sie mich weiter begleiten und ich erkläre Ihnen gerne etwas über die Bilder.«
»Sie kennen sich aus?«
»Das will ich meinen. Ich bin Professor Hering von der Kunstakademie. Karin von Stein hat damals einige Kurse bei mir belegt.«
Die Ablenkung war willkommen. Von Joe und Celina war nichts zu sehen, vermutlich hatte sie Kollegen ihrer Kunstgruppe getroffen. Die Aussicht, dass sie allein herumstand, reizte sie nicht sonderlich.
Lena willigte ein und musste zugeben, dass der Professor es verstand, die Bilder anschaulich zu interpretieren. Bald schlossen sich mehr Personen an und dank amüsanter Anekdoten wurde die Stimmung locker.
So war es für Lena total unerwartet, als sich plötzlich Vincent vor ihr aufbaute.
»Was tust du hier?« Seine Stimme klang so streng, als hätte ein Vater seine Tochter beim verbotenen Ausgang erwischt.
Hallo?
Was fiel ihm eigentlich ein?
»Ich wusste nicht, dass du ein Privileg auf diese Veranstaltung hast. Kümmere dich nicht um mich und geh wieder zu deiner Verlobten und kriech ihr …« Erschrocken brach sie ab und sah sich um. Zum Glück war die Gruppe weitergegangen und scharte sich bereits vor das nächste Bild. Rasch eilte sie ihnen nach, für sie war das Gespräch beendet.
Doch Vincent folgte ihr. »Lena, bist du wegen Leon hier? Wolltest du über mich triumphieren?«
»Was meinst du damit?«
»Dass Leon von der Schule geflogen ist.«

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